Erinnerung an einen linken Historiker - Nachruf auf Reiner Zilkenat

Yves Müller

Der Historiker Reiner Zilkenat (20. Mai 1950- 28. Februar 2020)war viele Jahre lang Mitglied der BAG und hat unsere Zeitschrift "Rundbrief betreut. Nun ist er leider von uns gegangen. Ein Nachruf von Yves Müller

„Die Vergangenheit ist ein anderes Land, aber bei denen, die einmal dort gelebt haben, hat sie Spuren hinterlassen.“ (Eric Hobsbawm)

Reiner Zilkenat wurde am 20. Mai 1950 geboren und wuchs im Westberliner Bezirk Tiergarten auf. Zwischen 1970 und 1976 studierte Reiner Zilkenat Geschichte und Politikwissenschaft an der Freien Universität. Besonders beeindruckt scheint er von dem am dortigen nicht gerade für seine Progressivität bekannten Friedrich-Meinecke-Institut gerade habilitierten und auf eine Professur berufenen Reinhard Rürup gewesen sein, von dem er auch vierzig Jahre später immer wieder sprach. In den seit der Studentenbewgung der ‚68er‘ politisierten Atmosphäre wurde Reiner Zilkenat 1972 Mitglied der maßgeblich von der DDR aus finanzierten und gesteuerten Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW).

Nach dem Studium war er als Hilfsassistent am Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Technischen Universität Berlin bei jenem Reinhard Rürup tätig, von dem Reiner Zilkenat so gern sprach. Hier schrieb er auch seine Examensarbeit über die Flottenpolitik des Kaiserreiches und das Agieren der deutschen Sozialdemokratie schrieb – eine „furchtbar interessante Tätigkeit“, wie er später in einem Interview gestand –, die er 1980 einreichte. In dieser Zeit begegnete er auch dem nur wenig älteren Peter Brandt, der an der FU promoviert hatte und Assistent an der TU bei Rürup war – der ehemalige Trotzkist, der später beim eher undogmatischen Sozialistischen Büro (SB) gelandet war und sich in den frühen 1980ern aufgrund seines gesamtdeutschen Engagements den Ruf eines „National-Neutralisten“ einhandelte, und der SEW‘ler. So hatte Reiner Zilkenat Gelegenheit gemeinsam mit Brandt und dem Germanisten Thomas Hofmann an einem der fünf Begleitbände zur 1981 im Martin-Gropius-Bau gezeigten Ausstellung „Preußen – Versuch einer Bilanz“ zu arbeiten.

Als wissenschaftlicher Angestellter bei der die Ausstellung ausrichtenden Berliner Festspiele GmbH war Reiner Zilkenat unmittelbar an der überaus erfolgreichen Ausstellung beteiligt, die die Sichtweise auf den preußischen Staat nachhaltig verändern sollte. Dem genannten Rowohlt-Band zur Sozialgeschichte Preußens folgte im gleichen Jahr gemeinam mit Brandt die Herausgabe eines Preußen-Buches in der „Lesebuch“-Reihe des kleinen linken LitPol-Verlags, den der Publizist Thomas Friedrich mitbegründet hatte.


Nicht zuletzt wird der 1972 beschlossene Radikalenerlass dazu geführt haben, dass eine Berufslaufbahn im öffentlichen Dienst für den politischen Menschen Reiner Zilkenat bald nicht mehr ungehindert möglich war. Die 1980er Jahre waren von seiner Mitarbeit im SEW-Parteivorstand geprägt, für dessen Theorie-Zeitschrift Konsequent er zuständig war und darin regelmäßig schrieb. Um an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED eine Dissertation zum Berliner Metallarbeiterstreik von 1930 und zur Gründung des Einheitsverbandes der Metallarbeiter Berlins (EVMB) zu verfassen, wurde Reiner Zilkenat freigestellt. Er lebte und arbeitete fortan immer wieder im Ostteil der geteilten Stadt. Als wohl erster, damals zumindest einziger Westberliner Doktorand an der Ostberliner Akademie war er „ein Exot“, wie er später amüsiert zugab. Die 1989 abgeschlossene Arbeit zu einem bedeutenden sozialgeschichtlichen Aspekt des deutschen Kommunismus wurde betreut von Rolf Richter, der sich mit zwei Dissertationen als Faschismusforscher einen Namen gemacht hatte und damals das Institut Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung leitete.


Die ‚Wende‘ bedeutete auch das Aus der Akademie für Gesellschaftswissenschaften. Reiner Zilkenat war für ein Jahr noch für die im Juni 1990 vom Parteivorstand der PDS ins Leben gerufene Bildungseinrichtung „podium progressiv“ mit ihren nur 20 Mitarbeitenden tätig, die aus der Konkursmasse der großen Akademie entstanden war. Als auch damit Schluss war, fing er als freiberufliche Lehrkraft in der Erwachsenbildung an. Schließlich könne man als Historiker alles mögliche machen, Geld verdienen gehöre aber nicht dazu.


Aufgeben war auch in politischer Hinsicht die Sache von Reiner Zilkenat nicht. Die SEW benannte sich um in Sozialistische Initiative, die noch bis 1991 existierte. Deren Mitglieder gingen zur DKP oder zur PDS. Reiner Zilkenat war beiden Parteien verbunden, ohne Mitglied zu sein. Er war parteilos, aber als Marxist und Antifaschist nicht heimatlos. Viele Jahre war er als verantwortlicher Redakteur des Rundbrief Mitglied des Sprecher*innenrates der Arbeitsgemeinschaft Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Parteivorstand der PDS (später Partei DIE LINKE.), deren Gründung 1990 maßgeblich von Rolf Richter angeregt wurde. Der Rundbrief erschien seit 1997. Die Redaktion übernahm Reiner Zilkenat, viele Jahre unterstützt von Horst Helas. Unermüdlich war Reiner Zilkenat dabei bemüht, neue Autor*innen zu gewinnen – meist mit Erfolg. So bin auch ich ihm über den Rundbrief etwa 2007 als junger Student der Geschichte begegnet. Fortan schrieb ich Rezensionen für den Rundbrief, Hausarbeiten wurden zu Artikeln umfunktioniert. Ab 2010 bearbeiteten Reiner Zilkenat und ich den Rundbrief im Tandem. Reiner Zilkenat hatte großes Vertrauen und ließ mich einfach machen. 2014 stiegen wir beide aus der Rundbrief-Redaktion aus, die damit vakant wurde und schließlich von Julia Wiedemann übernommen wurde.


Reiner Zilkenat bezeichnete sich selbst immer wieder als „Hobbyhistoriker“, der nur nebenbei historisch arbeite. Das war natürlich absolutes ‚understatement‘. ‚Nebenbei‘ war er kontinuierlich überaus produktiv, organisierte Tagungen, gab Sammelbände heraus, so auch für die und mit der Rosa Luxemburg Stiftung. Nicht selten klopfte er hier im Büro von Cornelia Domaschke, viele Jahre Referentin für Zeitgeschichte, an, immer mit einem neuen Projekt in der Tasche. Zusammen mit Horst Helas und Dagmar Rubisch brachte er 2008 den Sammelband Neues vom Antisemitismus: Deutsche Zustände heraus, der geschichts- und politikwissenschaftliche Beiträge zusammenführte und eine jahrelange – sicherlich nicht konfliktfreie – Beschäftigung der Stiftung mit dem Problem des Antisemitismus mitbegründete. Reiner Zilkenats eigener darin veröffentlichter Aufsatz ist eine gelungene Einführung zur Geschichte des modernen Antisemitismus im Kaiserreich. Wie schon bei der Mitarbeit in der BAG Rechtsextremismus/Antifaschismus, die seit 2013 den ungeliebten Rechtsextremismus-Begriff abgelegt hat, und im Rundbrief zeigte sich auch hier die für Reiner Zilkenat selbstverständliche Verbindung der historischen Forschung mit einer kritischen Gegenwartsdiagnose.


Dieses Selbstverständnis brachte Reiner Zilkenat auch bei unserer gemeinsamen Herausgabe eines Sammelbandes zur nationalsozialistischen ‚Sturmabteilung‘ (SA) ein. Die Zusammenarbeit mit dem ‚alten Hasen‘ für den 2013 veröffentlichten Band Bürgerkriegsarmee. Forschungen zur nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA) war eine großartige Erfahrung für den enthusiastischen Jungspund, der ich war.


Mit dem kleinen Neuruppiner Verlag edition bodoni schien Reiner Zilkenat zuletzt seinen Hausverlag gefunden zu haben. In der von ihm zusammen mit Marga Voigt herausgebrachten Reihe „Zwischen Revolution und Kapitulation - Perspektiven der Geschichte“ erschienen seit 2014 immerhin vier Bände: Den Anfang machte eine von ihm und Marga Voigt herausgegebene Aufsatzsammlung Henryk Skrzypczak zur Gewerkschaftsgeschichte. Der 2016 von Marga Voigt und Rainer Holze herausgegebene Band 1945 – Eine „Stunde Null“ in den Köpfen? fußt auf einer Tagung, an der – wenig verwunderlich – auch Reiner Zilkenat mitgewirkt hat. Zwei Jahre darauf folgte ein Konferenzband zur Geschichte der Räte während des revolutionären Umbruchs von 1918/19. Der letzte Sammelband Zweimal Deutschland, den Reiner Zilkenat mit Stefan Bollinger herausgegeben hat und der sich mit der Sozialpolitik in beiden Teilstaaten befasst, erschien erst postum.


Egal ob SA, Geschichte des Antisemitismus in Kaiserreich und Weimarer Republik, extreme Rechte im Schlesien der Zwischenkriegszeit, sudetendeutsche NS-Bewegung oder die Zusammenhänge von Keppler-Kreis und Nationalsozialismus – um nur einige Beispiele des überaus breiten Portfolios Zilkenat‘scher (Er-)Forschung zu nennen –, neue Erkenntnisse blieben nicht lange im der Öffentlichkeit verborgenen Arbeitszimmer des Historikers, sondern wurden für einen größeren Kreis aufbereitet. Artikel finden sich daher nicht nur in Sammelbänden, sondern Anfang der 1990er Jahre in der Tageszeitung Neues Deutschland, später in Junge Welt und Unsere Zeit, ebenso wie in den Deutsch-Tschechischen Nachrichten von Renate Hennecke – und natürlich unzählige Male im Rundbrief.
Auch wirkte seine historische Arbeit stets im Transferbereich historischer Forschung und historisch-politischer Bildungsarbeit. Dies zeigt sich in zahlreichen Referaten, die Reiner Zilkenat bei Tagungen der Hellen Panke und beim Berlin-Brandenburger Bildungswerk e.V. hielt, aber auch bei Bezirksverbänden der Partei DIE LINKE. oder bei der DKP, in deren Neuköllner Arbeitskreis Geschichte er ebenso aktiv war. Historische Bildungsarbeit, das war wohl sein Ding. Natürlich, seit der ‚Wende‘ war er freiberuflich in der Erwachsenbildung tätig, seit 2005 lehrte er an einer privaten Berufsfachschule in Berlin-Prenzlauer Berg. Aber besonders ‚nach Feierabend‘ widmete er sich diesem Metier, war von 2011 bis 2019 Vorsitzender des Vereins pro seniores – Verein zur Förderung der Seniorenuniversität Berlin e.V.
Ob Aufsatz oder Vortrag, ob Tagung oder Seniorenuniversität, Reiner Zilkenat war stets ‚up-to-date‘. Er schöpfte aus seinem reichhaltigen Quellenfundus, der fortlaufende Erweiterung erfuhr. In jeder freien Minute war er im Lesesaal oder in der Bibliothek des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde anzutreffen. Auf dem Gelände der ehemaligen preußischen Hauptkadettenanstalt und späteren Kaserne der sogenannten Leibstandarte SS Adolf Hitler befinden sich auch die Vereinsräume des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e. V., dessen Vorsitzender Reiner Zilkenat als Nachfolger von Günter Benser von 2011 bis 2018 war. In dieser Zeit bemühte er sich um neue Mitglieder und eine Verjüngung des Vereins. Für Reiner Zilkenat kein Problem. Er vermochte es, Nachwuchshistoriker*innen anzusprechen, zeigte großes Interesse an neuen Forschungsfragen und schwärmte immer wieder von diesem oder jenem ‚schlauen Kopf‘, den man im Auge behalten müsse. Eine Zeitlang versammelte er sogar einen historischen ‚Stammtisch‘ um sich, der sich regelmäßig in einem Hinterzimmer der Kneipe „Aufsturz“ in der Oranienburger Straße traf. Da saßen dann einige linke Doktorand*innen und ein Reiner Zilkenat zusammen und debattierten stundenlang. Der Kreis verlagerte sich in den Folgejahren in Neuköllner Wohnzimmer. Reiner Zilkenat versuchte dabei zu sein, so oft es ging.


Zuletzt hatten wir uns ein wenig aus den Augen verloren. Als ich ihn im Februar am Rande einer Veranstaltung traf, auf der zum Kapp-Lüttwitz-Putsch und zum Generalstreik von 1920 referierte, versprachen wir, den Kontakt wieder aufzufrischen. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Plötzlich und unerwartet wurde Reiner Zilkenat am 28. Februar 2020 aus dem Leben gerissen. Er wurde 69 Jahre alt.


Reiner Zilkenat wird in vielerlei Hinsicht in Erinnerung bleiben. Mit seiner obligatorischen Aktentasche, meist gekleidet in Rollkragenpulli und legerem Sakko, war er stets auf dem Sprung. Trotzdem nahm er sich die Zeit für einen Plausch unter Historikern, war wissbegierig und lernbereit. In Sachen Fußball allerdings, für den er sich begeisterte, konnte ich nicht mitreden. Seine Bibliothek in der kleinen Wohnung, der er mit seiner Lebensgefährtin bewohnte, beeindruckte mich sehr. Besonders stolz war er auf seine Sammlung der Werke Thomas Manns, dem seine literarische Liebe galt.
Mit Reiner Zilkenat verlieren wir einen wunderbaren Historiker und Lehrer, aber vor allem einen guten Freund, Kollegen und Genossen.

Yves Müller